Christine war 49, als ihr Brustkrebs entdeckt wurde. Zwei Jahre später wurde ihr gesagt, dass ihre Krankheit nicht geheilt werden kann: Der Krebs hatte bereits Metastasen gebildet. Christine fiel in ein Loch – aber dort blieb sie nur für zwei Wochen. Dann entschied sie sich dafür, anzunehmen, was auf sie zukommen wird. Ihr Mann Klemens und sie durchlebten eine heftige Krise, die letztlich zu der Beziehung führte, die die beiden schon seit dem Beginn ihrer Liebe 2005 führen wollten. Doch dass es Arbeit bedeutet, die eigenen Wünsche zu erfüllen, das persönliche Glück zu finden, kennt Christine schon.
„Einfach wäre zu einfach“, benennt sie selbst ihr unfreiwilliges Lebensmotto. In ihrem Leben hat sie viele Traumata durchlitten, erzählt von Missbrauch in der Kindheit und einer Krankheitsgeschichte, die nicht erst im Krebs ihren Anfang gefunden hat. Doch Christine ist kein Opfer, sie ist eine Macherin. Wenn sie nicht glücklich ist, ändert sie ihre Situation. In ihrer Biografie zeichnet sich diese Konsequenz durch drei geschiedenen Ehen aus, nach denen sie nun in der Vierten endlich ihren Lebenspartner gefunden hat. Auch dass ihre drei Kinder keinen Kontakt mehr zu ihr haben, zwingt sie nicht in eine verbitterte Rolle. Ihre Weltanschauung ist so unbequem und unsentimental, dass sie die autonome Entscheidung ihrer Kinder ein Stück weit stolz macht.
Sechs Jahre nach ihrer Krebsdiagnose leben Christine und Klemens in einer Erdgeschosswohnung in Heide, nur wenige Kilometer von der rauen Nordsee entfernt. Vor dem Haus ein kleiner Garten, in dem der weiße Pudel Boje toben kann. Die Haustür ist abgeschlossen, doch der Eingang durch den Anbau im Hinterhof so gut wie immer geöffnet. Klemens schraubt und werkelt, Christine verbringt die meiste Zeit sitzend im Bett. Ihre Beine schmerzen und müssen hochgelegt werden, zu Fuß schafft sie es kaum noch die Straße hinauf.
Eigentlich wäre sie gerne 113 geworden – einfach, weil sie es spannend findet, das Leben zu beobachten. Von diesem Wunsch hat sie sich verabschiedet und widmet ihre verbleibende Zeit der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Tod. Ganz ihrem Wesen entsprechend nimmt sie ihr Sterben selbst in die Hand, soweit es eben geht. Alles ist geplant, fast alles ist vorbereitet: Der Pappsarg liegt auf dem Kleiderschrank, die Urne steht auf der Fensterbank. Sie bemalt den Sarg, er soll schön aussehen. Die Assoziation mit einem Umzugskarton gefällt ihr, schließlich wird sie darin umziehen.
Christine nimmt die Konfrontation mit ihrem Tod als eine größere Aufgabe an. Auf ihrem Instagram Kanal teilt sie mit knapp 2000 Menschen ihre Krankheitsgeschichte, ihre Sterbevorbereitung und Gedanken zum Tod.
„Es ist ein großes Problem, dass das Sterben in unserer Gesellschaft ausgegrenzt wird. Vielen Menschen fällt es schwer, mit dem Tod umzugehen und sich Sterbenden zu widmen. Ich kann nicht die Welt retten, aber ich werde bald sterben und kann meine Situation nutzen, um anderen Menschen Mut zu machen. Der Tod ist in unserer Gesellschaft so tabuisiert, schambelastet und ungreifbar, dass es kein Wunder ist, dass Menschen Angst davor haben. Wenn niemand anfängt, die Hosen runterzulassen, werden wir den Zugang völlig verlieren.“
Christine möchte zu Hause sterben, versorgt vom spezialisierten ambulanten Hospizdienst und ihrem Mann. Ihr ist es wichtig, über alle Eventualitäten zu sprechen und ihre Wünsche zu äußern, solang es noch geht.
„Sterben ist so ziemlich das Intimste, was man jemandem zeigen kann, finde ich. Du verlierst sämtliche Kontrolle über alles, ab einem gewissen Zeitpunkt. Und dann bist du ausgeliefert. Niemand von uns verliert gerne die Kontrolle. Deshalb ist es so wichtig, dass dich Menschen begleiten, denen du vertraust. In dem Moment hast du nicht mehr die Möglichkeit, einzugreifen. In dem Moment musst du dich darauf verlassen, dass deine Wünsche respektiert werden.“
Doch bevor es so weit ist, hat Christine noch einen großen Wunsch: Sie möchte im Mittelmeer schwimmen. Noch einmal von den sanften Wellen getragen werden, noch einmal im warmen Salzwasser schwimmen. Ihr Herz hängt an der Nordsee, aber die ist schon lang zu wild und kalt für ihren Körper. Durch ihre Krankheit fehlen den beiden die finanziellen Mittel für die letzte große Reise, doch mithilfe einer Spendenaktion wird der Traum ermöglicht: Christine und Klemens fahren mit einem geliehenen Wohnmobil nach Kroatien. Im September geht es los, das letzte Reiseabenteuer. Ausgerüstet mit Rollstuhl, einem Koffer voller Medikamente und der Urne, falls sie nicht mehr lebend nach Hause kommen sollte.
Sie sitzt auf dem Campingstuhl vor dem Wohnmobil, die letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen ihr Gesicht. Ihr geht es richtig gut, Urlaub hätte sie öfter vertragen können. Doch auch der Monat mit der warmen Brise, mit dem kleinen Hauch von Unbeschwertheit geht vorbei. „Es geht ja nicht darum, dass ich danach sofort sterben werde“, sagt sie, schmunzelnd und mit Zuversicht in der Stimme. Wie lang kann es noch so weitergehen? Seit sechs Jahren lebt sie nun mit dem Krebs, vor vier Jahren bekam sie ihr Todesurteil. Jede Statistik hat sie gesprengt, doch auch ihr Körper wird schwächer. Es ist ein genaues Auspendeln, ein Ausprobieren und in sich hören: Wie viel Schmerz kann sie ertragen? Wie kann sie ihre Lebensqualität so weit aufrechterhalten, dass die Schmerzen auszuhalten sind und zugleich der Verstand möglichst klar bleibt? Sie möchte ihren Körper nicht betäuben, sie möchte das Leben spüren. Aber sie spürt auch, dass ihr Körper und das Leben nicht an einem Strang ziehen.
Eigentlich wollte Christine den Sarg auch von innen bemalen. Es sollten Briefe von ihren Liebsten darin aufgehängt werden, damit sie sie nah bei sich hat. Wenn sie merkt, dass es zu Ende geht, möchte sie online eine große Abschiedsfeier machen. Wer mag, kann sich einklinken, um Zeit mit ihr zu verbringen. Ein bisschen quatschen, lachen, weinen. Was soll es ihr bringen, wenn sie alle zusammen kommen – nach ihrem Tod? Das möchte sie gern noch miterleben. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Wann geht es ihr noch gut genug, um sich mit ihren Freund:innen zu umgeben, aber so schlecht, dass es das letzte Mal sein wird? Wann ist der Moment, in dem die allerletzten Vorbereitungen getroffen werden, in dem sie bereit ist zu sterben?
Auf ihrem rechten Arm ist die „Hohe Priesterin“ tätowiert. Es symbolisiert die alte, weise Frau, mit der sich Christine identifizieren kann. In dem Zyklus der Jungfrau, Mutter und alten Weisen ist sie am Ende angekommen. Christine fühlt sich mit dem keltischen Glauben verbunden. Er ist ursprünglich, naturverbunden. Wenig kalendarisch, sondern jahreszeitabhängig, intuitiv. Auch wenn Christine ihre Krankheit und ihren bevorstehenden Tod ganz pragmatisch und realistisch betrachtet, gibt ihr der keltische Glaube Kraft. Durch ihn hat sie die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende von allem, das Sterben nicht der endgültige Abschied ist. In dem Glauben gibt es eine „Anderswelt“, ein auf einer anderen Ebene existenter Wohnort verschiedener mystischer Wesen. Ein Freund hat ihr ein symbolisches Telefon aus Holz gebastelt, damit sie in Kontakt bleiben können. Es soll gemeinsam mit einem Reisigbesen in den Sarg kommen. „Andere Menschen nehmen Stofftiere mit, ich einen Besen und ein Telefon. Klingt ein bisschen gaga, aber wieso nicht? Der Besen bringt mich dahin, wo ich hingehöre. Wo auch immer das sein wird. Mit dem Telefon kann ich Kontakt aufnehmen, wir bleiben verbunden.“
Es ist Freitag, der 19. November. Seit Mittwoch antwortet Christine nicht mehr auf ihre Nachrichten. Ihr Handy liegt unbeachtet auf dem Nachttisch. Es gab keine Abschiedsfeier, der Sarg ist nicht fertig bemalt. Christine ist unruhig. Sie liegt im Pflegebett, regelmäßig kommen Palliativschwestern, um nach ihr zu sehen. Klemens ist ununterbrochen in ihrer Nähe. Wenn er den Raum verlässt, ruft sie nach ihm. Sie möchte wenig Medikamente. Er hat die Sorge, ihr trotzdem zu viel gegeben zu haben. Christine ist nicht mehr ganz da, es sind viele Geräusche, aber wenig Worte. Es klingelt. Ein großes Paket wird geliefert, gefüllt mit Astronautennahrung. Seit Tagen hat Christine nichts mehr gegessen. Sie möchte auch jetzt nichts. Gütige, traurige Augen beobachten jeden Atemzug von ihr. Sie greift nach Klemens Hand: „Ich möchte nicht sterben.“ „Das musst du auch nicht, mein Schatz, nicht heute“, ist seine Antwort.
Es wird dunkel, der Vollmond scheint durch das Fenster. Die Palliativärztin kommt und führt ein langes Gespräch mit Klemens in der Küche. „Bitte redet an meinem Sterbebett nicht über mich, als wäre ich nicht da“, das war Christine sehr wichtig. Nach dem Gespräch ist Klemens ruhiger, er wirkt erleichtert. Ihr Zustand liegt nicht an den Medikamenten, nicht an dem fehlenden Essen, nicht an ihm. Sie ist sterbend, daran wird sich nichts mehr ändern. Die Veränderung in Klemens Haltung ist sichtbar: Er ist zurückhaltender, lässt die Situation zu. Auch Christine braucht die Zeit, den Raum, um zu verstehen, um anzunehmen. Er ist nicht mehr die ganze Zeit bei ihr und sie ruft nicht mehr nach ihm.
Es wird ruhiger. Sein Bett steht direkt neben ihrem. Endlich schläft er, das konnte er seit Tagen nicht. Nach Mitternacht geht das Licht an. Boje bellt. Klemens strahlt: „Sie hat es geschafft!“ Er ist sich sicher: Christine konnte nicht sterben, solang er sie beobachtet. Der Abschied war zu schwer. „Sein Verlust wird der Größte sein. Ich verliere nur mein Leben, er verliert seine Frau“, hat sie angekündigt. Doch er hat sie nicht allein gelassen, er war mit ihr im Raum. Er war bei ihr und sie durfte gehen, konnte gehen. Sie hat es geschafft.
Klemens wickelt Christine in ein rotes Tuch, es erinnert an den Umhang der Hohen Priesterin. Auf ihren Körper legt er Fotos von glücklichen Zeiten. Christine und Klemens haben genau besprochen, was nach ihrem Tod passiert. Gemeinsam mit dem Bestatter wird er sie zu Hause waschen, schminken. Auf den Kopf wird ihr ein Blumenkranz gelegt, sie möchte ganz am Ende noch einmal richtig schön aussehen. Es soll ein Abschied voller Würde, das liebevolle Loslassen für ihre letzte Reise werden. Doch diese Nacht gehört noch Klemens und Christine, diese Nacht bleibt sie noch bei ihm. Immer wieder lässt er dasselbe Lied laufen, ihr Lied, von Silbermond. Bis zum Morgengrauen bleibt er bei Christine sitzen, mit einem Negroni prostet er ihr zu. Den haben sie vor zwei Monaten noch gemeinsam in Kroatien getrunken.